Achtung, es wird länger...

Ich hatte im Forum ja bereits meine Eindrücke zur Ribelle geschildert. Am Tag der Probefahrt mit der Ribelle (Mai 2020) habe ich dann meine EsseEsse 9+ bestellt, die ich am 14.08.20 bei Lennart und Daniel abholen konnte. Die Jungs kann ich nur loben, die stehen einfach hinter der e-Mobilität und vertreiben die Motorräder nicht als Haupt-Einnahmequelle (ich glaube das machen sie mit dem Kerngeschäft Kälte- und Klimatechnik). Sie sind insofern keine typischen Motorradhändler. Daniel hatte die frisch herausgekomme FW 037 bereits installiert; aufgrund vorausgesagtem und auch eingetroffenem Gewitter bin ich aus Hannover gleich per Miet-Transporter nach Meppen gefahren.
Dann die erste Ausfahrt nach ein paar Tagen – sofort noch einmal in ein Gewitter gekommen, was aber nicht vorhergesagt war. Und direkt ein Nässe-Problem mit der rechten Schaltereinheit am Lenker festgestellt: Der Mode-Button des linken Schalterblocks am Lenker spinnt. Aus dem angezeigten Fahrbildschirm (Anzeige Geschwindigkeit) geht die Maschine selbsttätig auf dem Mapping-Bildschirm (Einstellung Leistung und Einstellung Rekuperation) oder auch den Bildschirm Traction Control wechselt. Verdunstet das Wasser, dann ist der Spuk wieder vorbei. Schon besprochen: Die Schalteinheit wird auf Garantie getauscht – ohne Analyse aufgrund der Beschreibung. Das ist schon klasse!
Aber gehen wir systematisch vor:
1. Verarbeitung
Von der Ribelle war ich hellauf begeistert. Die Esse ist zweifellos ebenso gut, jedoch trüben ein paar Kleinigkeiten das ansonsten tadellose Bild. Der Rahmen ist am Lenkkopf nur mangelhaft beschichtet. Es gibt dort zwei Querröhrchen (hängt vermutlich bei der Ego die Verkleidung dran). Schon nach der ersten Regenfahrt blühte mir hellrot Rost aus den Röhrchen und den Anschweißpunkten entgegen! Ebenso waren die Bremsscheiben weiter innen nahe der Verbindung zur Felge am Stanzgrat schon nach der ersten Regefahrt hellrot am rosten; hier ist es aber wohl normal und verschmerzbar. Ich habe nur die Zero DS als neues Motorrad als Vergleich - die hatte Regen ohne sichtbaren Rost überstanden (bis auf eine Bremsschlauch-Schelle).
Natürlich gibt es auch die schon allgemein bekannten sehr positiven Besonderheiten - viele mit Liebe zum Detail gefrästen Teile: Lampenträger, Heckausleger, Fußrastenanlage, oberes Mittelteil. Auch ist der Rahmen sauber geschweißt – selbst meine BMW zeigte unsaubere Schweißnähte, teils mit Schweißperlen übersäht. Die ehemals bei Energica aus Karbonfaser laminierten Kotflügel und Kettenschutz sind nun unlackierte Kunststoff-Spritzgussteile. Auch sind die Verkeidungsteile seitlich der Batterie aus Spritzguss. Hier weiß ich nicht, ob die zuvor auch aus Kohlefaser waren?! Nun ja, immerhin sollen die Kunststoffteile weniger kratzempfindlich als die glänzende Lamiant-Oberfläche sein.
Die Sitzbank ist SUPER. Einerseits für mich dauer-komfortabel, andererseits optisch einfach sehr hochwertig verarbeitet! Gerade Nähte, alles symmetrisch. Leider speichert die Oberfläche ein wenig Nässe – nach einem Regenschauer oder der Motorrad-Handwäsche hat man trotz wieder trockener Oberfläche eine nasse Hose.
2. Motor
Alles, was ich zur Ribelle geschrieben hatte, gilt auch hier – trotz formell „nur“ 200Nm anstelle 215Nm: Sagenhaft und über jeden Zweifel erhaben. Anfangs hatte ich mich noch nicht getraut, voll zu beschleunigen. Aber der Respekt davor ist auf den Kilometern langsam gefallen. Sie bleibt aber ein energiereiches Biest! Was mich besonders begeistert: Der Antriebsstrang ist absolut ruckfrei und sie hängt extrem direkt am Drehgriff (darf ich noch „Gas“ sagen?). Keine Verzögerung, der Controller setzt die Drehbewegung wirklich unmittelbar in Drehmoment um!
Ich habe noch keine höheren Geschwindigkeiten probiert, das Maximum waren beim Überholen Beschleunigungen von 60 auf 100km/h (oder war es etwas mehr?!). Das geht so schnell… einfach unglaublich!!
Trotzdem vermittelt der Antriebsstrang beim Leistungseinsatz jederzeit eine gute Beherrschbarkeit.
3. Ergonomie
Die Sitzposition ist neutral mit leicht vorgebeugter Haltung des Oberkörpers und leichtem Druck der Hände auf den Lenker. Der Kniewinkel ist angenehm und erinnert an R1200R und TDM850. Der Lenker ist nach meinem Geschmack schön hoch, dürfte für mich sogar noch 20 oder 30mm näher an den Körper heran. Damit würde man dann vermutlich komplett ohne Druck der Hände auf der Maschine sitzen. Na, mal sehen, ob ich Firma Voigt Moto Technik mal dazu befrage…
Die wunderschönen Fußrasten aus Alu haben keine Gummi-Oberfläche und sind dementsprechend glatt. Hier habe ich noch keine Meinung und konnte bisher nur feststellen, dass die Füße besonders bei Nässe einfach schneller aus der Position rutschen. Man muss schon eine bewusste Fahrposition einnehmen – einfach sofa-like dahin-fleetzen geht nicht gut. Trotzdem, ein wenig mehr Griffigkeit wäre schon gut. Die Rasten sind zudem kürzer, reichen gefühlt etwa 2/3 der Sohlenbreite. Hat man die Rasten unter den vorderen Ballen, dann ist das durch den Druck aufgrund der zart sportlichen Körperspannung kein Thema, aber bei „touristischer“ Position kurz vor dem Ansatz habe ich das Gefühl, die Füße lagern auf einer Kugel. Ich muss mich daran gewöhnen, dass die Sitzposition ganz allgemein einen Hauch fahraktiver ist, als ich das durch meine GS gewohnt war. In sich ist das alles aber sehr ausgewogen und stimmig!
Bremshebel und Griffgummis sind „ohne Befund“. Solide und einfach gut. Mir ist bisher noch auf jeder Maschine die rechte Hand eingeschlafen (auch auf der Zero DS). Nicht so auf der Esse – es kann ja eigentlich nur an der leicht nach vorne gerichteten Sitzposition liegen...
Die Schalteinheiten sind funktionell. Besser als meine Zero DS; aber auch nicht besser als allgemein üblicher Standard. Leider ist der Tempomat wirklich ungünstig am rechten Lenker angebracht. Der Drehgriff hat ein breites Gehäuse, diese Breite muss der Daumen überbrücken, bis man den Tempomat-Taster erreicht. Dafür gibt’s nur ein Wort: Saublöd!
Die Spiegel sind klasse. Chic und funktionell, machen einen echt hochwertigen Eindruck und ich kann sie sinnvoll einstellen. Ich sehe zwar immer auch etwa ¼ meine Schulterm, aber zahllose andere Marken machen es deutlich schlechter bei scheußlich aussehenden Spiegeln. Ich bin mit den Spiegeln jedenfalls sehr zufrieden! Auch Goodies wie eine Doppel-USB-Steckdose vor dem Dashboard sind prima. An der Zuleitung habe ich per Y-Kabel 12V für mein Garmin abgezwackt sowie daran auch einen Kettenöler von Berotec angeschlossen.
Was gibt’s sonst noch? Ich habe die Maschine mit Heizgriffen, Koffersatz und Windschild geordert. Kälteste Temperatur war bislang im Harz 17° - die Heizgriffe brauchen auf Stufe 3 (max) schon ein Weilchen, um die Finger zu wärmen. Muss ich bei kühleren Temperaturen wiederholen – eventuell hängt die Steuerung ja auch von der Umgebungstemperatur ab?!
Der Koffersatz ist bislang unauffällig. Praktisch, weil man ohne groß Gerödel ein Typ2 Kabel verstauen kann. Ich habe ein 3-phasiges Mennekes von Tesla in der 4m Ausführung. Die Stecker sind ja eher gerade, trotzdem kann man alles sehr problemlos eng genug wickeln und es verschwindet wirklich ohne Probleme im Koffer.
Die Scheibe ist für Landstraßentempo recht brauchbar. Echten Windschutz gibt’s nicht, aber dafür liegt der Kopf auch nicht im Bereich irgendwelcher Turbulenzen. Die trifft eher so der Brustbereich. Ein Autobahntest steht noch aus, mal sehen, wie es da ist.
4. Fahren und Fahrdynamik
Auf den ersten 100km bin ich aufgrund der neuen Reifen wirklich extrem vorsichtig gefahren; auch kenne ich ja das Bike noch nicht. Aber die folgenden paar 100km haben ein paar Eigenarten herauskitzeln lassen. Aber zunächst habe ich die Federvorspannung der Gabel auf mein Kampfgewicht eingestellt – ich musste vorne komplett vorspannen, was mich ziemlich wunderte. Die Gabel hat hohe Losbrechkräfte im Stand. Bei der Fahrt spricht sie durchaus feinfühlig an (sagen wir mal „unauffällig“), aber im Stand „stukkert“ sie immer in 2cm-Sprüngen rum. Anfangs dachte ich, es sein ein Einlaufthema, aber auch nach nun 900km ist das unverändert. Ich gehe mal behutsam an die Dämpfung der Zug- und Druckstufen heran, eventuell muss ich beide ein wenige Klicks aufdrehen. Könnte helfen.
Das Federbein hinten war vom Niveau her passend, nur ist es völlig unterdämpft. Auch hier muss ich noch prüfen, ob ich nachbessern kann. Ansonsten probiere ich Hyperpro!
Obschon die Esse um Welten satter auf der Straße und besonders in Kurven liegt, als die Zero DS, liegt sie doch besonders in Kurven nicht völlig neutral. Trotz dass sie nach der Korrektur der Vorspannung vorne jetzt etwa 10mm höher liegt und die Geometrie somit Richtung mehr Stabilität verändert ist, ist sie in schnell gefahrenen Kurven noch ziemlich nervös und muss oft feinfühlig korrigiert werden. Da dies auch bei Geradeausfahrt spürbar ist, dort aber nur auf einwandfrei glatt geteerter Oberfläche, lautet meine Diagnose: Lenkkopflager einen Hauch zu fest! Nun ja, die 1000er kommt ja bald.
Zudem hat sie die Tendenz, in bis etwa 50km/h schnell gefahren Kurven hereinzufallen und muss mit zartem Druck am inneren Lenkerende auf Kurs gehalten werden. Habe hier mit dem Reifendruck zwischen 2,6 und 3,1bar gespielt. Bei Fülldruck unterhalb 2,9bar verstärkt sich diese Eigenart, aber auch bei 3,1bar verschwindet sie nicht völlig. Bei schnelleren Kurven bleibt sie dann zunehmend neutraler. Ab etwa 80km/h habe ich dann das Gefühl, ich könnte die Hände vom Lenker nehmen & sie folgt der Kurve gemäß gewähltem Kurs und Schräglage. Ich bin da aber von meiner BMW R1200GS sehr verwöhnt gewesen, die lag aber sowas von neutral – völlig unabhängig vom Tempo! Zu guter Letzt muss ich betonen: Das ist Jammern auf verdammt hohem Niveau! Dem einen oder anderen mag es vielleicht gar nicht auffallen.
Letzte Woche habe ich an einem ADAC-Kurventraining teilgenommen – bei Regen und absolut nasser Oberfläche. Nicht feucht, nass! Es lief aber sehr gut, bei schnellem Kurvenwechsel und der nassen Fahrbahn fällt mir das nicht auf, selbst in der Kreisbahn nicht. Mir hat das Training sehr geholfen, die Maschine besser kennen zu lernen!
Noch kurz was zu Fahrten bei Nässe: Die Maschine saut sich vorne und seitlich fast gar nicht ein, nur Schwinge, Federbein und Heckausleger werden dreckig. Ich habe hinten den werksseitigen Spritzschutz verbauen lassen, ohne den würde durch den nach oben offenen Ausleger der Schmutz bis über den Rücken verteilt werden.
5. Bremsen
Ich konnte beim Kurventraining die Bremsen ordentlich fordern und das ABS vorne und hinten unzählige Male in den Regelbereich bringen. Im Dashboard sind LEDs, die leuchten bei aktiver Traktionskontrolle und auch bei Regelbetrieb des ABS auf. Das Verhalten der LEDs bei ABS muss ich weiter beobachten, vorne leuchten sie um Sekundenbruchteile verzögert (hinten sofort).
Zudem hat die Esse ein eABS. Dieses regelt zusätzlich zum hydraulischen Teil auch den Rekuperations-Kreis, d.h. bei plötzlicher Stromwegnahme (wolle Gaswegnahme schreiben) und voll eingestellter Reku-Leistung auf glattem Untergrund wird auch ganz ohne Bremseingriff das Hinterrad nur soweit durch die Reku verzögert, dass es sich noch sicher dreht. Das geschieht halt, indem die Reku-Leistung aktiv verringert wird. Schade, dass das im Handbuch keine Erwähnung findet! Ist wahrscheinlich fürs „breite Publikum“ nicht so wichtig…
Wir haben in Wohnungsnähe 300m eine alte, aalglatte Kopfsteinpflasterstraße. Ein herrliches Testterrain für solche Spielereien!!
Ansonsten habe ich im Harz die Bremsen auch mal bei ausgeschalteter Reku ausgiebig getestet. Sauber dosierbar, kräftig, aber nicht bissig. Hinten eher unauffällig, aber das schnell zupackende ABS zeigt mir, dass ich doch sehr fix zur Haftgrenze komme. Eigentlich wünsche ich mir das ganz genau so! Da ich in der Stadt und über Land aber fast ausschließlich durch die Reku verzögere, kamen bis zum Kurventraining und der Harz-Tour die Bremsanlage gar nicht richtig zum Einsatz und ich frage mich, ob die Beläge schon ausreichend eingefahren sind.
6. Rangieren, Parken, Aufbocken
Die Esse hat nur einen Seitenständer. Obschon der 21.5kWh-Akkublock eine Anschraubposition und Bauraum für einen Hauptständer bieten würde, gibt’s den auch nicht gegen Aufpreis vom Hersteller. Der Seitenständer ist sehr gut zu erreichen, man muss kein Fußyoga beherrschen. Hinten habe ich Bobbins für eine Aufnahme eines Montage-Ständers eingeschraubt (8mm Gewinde sind in der Schwinge), für vorne habe ich mir einen Kern-Stabi X4 Frontständer gekauft. DER ist klasse! Er greift per Konus von unten in den Lenkkopf ein und wird per 13’er Nuss hoch- oder runtergekurbelt. Die Position des Ständers am Boden bleibt unverändert – das vermittelt eine unglaublich hohe Stand-Sicherheit!
Was wiegt sie denn nun? Das Handbuch behauptet 275kg. Könnte stimmen, aber schon nach dem Anfahren ist das kein Thema mehr. Wohl aber beim Rangieren! Rangiert wird per Rangiermodus – Vor- und Rückwärts-„Gang“ mit max 4km/h. Sehr praktisch bei den 275kg!
7. Reichweite der Plus-Version mit 21.5kWh Brutto- und 18,9kWh Nettokapazität
Nach 160km bei sportlicher Fahrweise über Land und durch den Harz war ich auf 15%. Zeit für mich, eine Ladesäule anzusteuern.
Ich bin auch auf 220km bei zurückhaltender Fahrweise über Land gekommen, wobei ich da selten über 80km/h gefahren bin. Und es gehen auch 300km im Stadtbetrieb; sanft im Verkehr mitschwimmend beschleunigen, vorausschauende Fahrweise. Die 300km Reichweite im Sauerland, die ein anderer User schafft, sind bei meiner Fahrweise wohl nicht ohne Weiteres drin.
Ich notiere das Nachladen bisher lückenlos per App. Da man an der Maschine und an typischen Ladesäulen meist nicht die genaue nachgeladene Energiemenge abliest, trage ich den Ladehub in % mal der Netto-Akkugröße von 18,9kWh ein. Damit liege ich im Schnitt jetzt bei 10,5kWh/100km. Ich hatte aber schon Abschnitte mit um die 6,5kWh/100km dabei (Stadt) und auch 13kWh/100km.
8. Nachladen
Tja, was soll ich sagen? Wow! 23kW maximale Leistung am CCS, den Durchschnitt über einen kompletten Ladehub konnte ich an DC noch nicht ermitteln. Es geht halt fix. Im Harz habe ich in Braunlage an einem 20kW-CCS bei 18% eingesteckt, nach 40 Minuten bei 91% abgezogen. Es reicht knapp für einen „Wild-Burger“ samt alkfreiem Weizen. Keinen von mir geliebten Expresso! Ansonsten habe ich ein mal beim Arbeitgeber an Typ2-Säulen geladen und zuhause an der Wallbox sowie das beiliegende ICCB ausprobiert – das liefert ebenfalls 13A oder 3kW.
Sorry für die Länge des Ersteindrucks – es mag ja dem einen oder anderen bei der Entscheidung helfen!
Grüße aus Hannover,
Matthias